Gedanken

On running

Warum laufe ich?

Die Frage habe ich mir noch nie so richtig und ernsthaft gestellt, durch mehrere Verletzungen wurde sie ernsthaft in Frage gestellt und irgendwie war dann aber doch klar, ohne geht es nicht. Keine andere ausprobierte Sportart hat mir das ersetzt, was das Laufen mir gab.

Denis Wischniewski beantwortet in seinem Buch „Einen Sommer lang“ diese Frage für sich auf einem Etappenlauf von München bis Istanbul: „Laufen ist meine eigene kleine Welt, ein Raum, der mir gehört. Es gibt Tage da achte ich sehr darauf, wie ich laufe, wie ich mich bewege, wie ich atme und in welchem Tempo ich renne. Und es gibt Momente, da ist es so, wie es ist, da laufe ich, ohne zu denken, ohne irgendeine Last auf meinen schultern zu spüren.“ und schließt das Buch mit „Mir wurde klar, dass ich laufen muss, wenn ich es kann. Es ist eine Art Verpflichtung.“ [Denis Wischniewski – Einen Sommer lang, Seite 220 & 265] Es war für ihn auch ein Lauf zurück in seine Vergangenheit, es werden immer wiederauch Szenen und Begebenheiten aus seinem Leben erzählt, zudem begleitet ihn sein Vater in einem Begleitfahrzeug und ist somit 50 Tage ebenfalls sein Begleiter.

Ein Begleiter war Laufen in meinem Leben zunächst sehr lange nicht. Klar, als Kind war man in den 70er und 80er eigentlich fast immer draußen und lief herum, aber jetzt mit Training und so und „für einen Lauf“ rausgehen, das gab es nicht. Erst mein Lateinlehrer hat uns mit grober Anleitung durch den Wald laufen lassen. In der Schule gab es einen Rundkurs zu laufen und je gelaufenem Kilometer konnten Verwandten und Freunde einem D-Mark für ein Partnerschule in Afrika spenden. Ich war nicht schlecht dort und fand irgendwie schon Gefallen daran, mein Sport war aber eher das Radfahren. Zudem waren wir verpflichtet zu Wandern. Ich konnte quasi noch nicht mal gehen, da wurde ich schon in Kiepe durch den Bayerischen Wald getragen, selber bis in die frühe Pubertät hinein dann selber im Sommer in den Ferien in Österreich wandernd. Schmackhaft wurde das mit Draußen sein und Stempel an den Gipfelkreuzen sammeln und dann Abzeichen in Bronze, Silber und Gold bekommen. Danach kam irgendwann der Kanusport dazu und dann in der neunten Klasse der erste Tanzkurs. Insgesamt sieben Jahre und die letzten vier mit Anspruch und Training in einer Showformation, sollte es dann mein Sport sein.

Die Jahre danach waren Zivildienst, dort habe ich neben viel Alkohol ab und zu das Rad raus geholt, im anschließenden Job als Außendiensttechniker saß ich eigentlich ununterbrochen nur im Auto oder rannte – also ging – durch Gebäude. Ab und zu kamen an Wochenenden längere Radausfahrten dazu. Bei uns in der Familie wurde immer herausgestellt, dass wir alle ja so hervorragende Ausdauermenschen seien – hätte man eine Leistungsdiagnostik mit Laktat und Spiro tatsächlich mal gemacht, wäre das Ergebnis okay gewesen, aber weit, sehr weit weg vom Anspruch. Meine körperlichen Grenzen durfte ich hautnah auf einer 12 tägigen Etappenwanderung in den Pyrenäen spüren. Als Kind und selbstbewusst dort auflaufend, merkte ich schnell, dass ich im Gebirge und Hochgebirge doch eher unerfahren war, zudem viel zu viel Zeug dabei hatte. Mein Rucksack war viel zu schwer und mein Trainingszustand miserabel. Dazu kam noch ein nicht ungefährlicher Magen-und-Darm-Virus und die Sachen war für mich beendet. Demütigend war z. B. dass einen Tag bei einem Abstieg der DAV-Bergführer Bernd meinen großen Rucksack noch auf seinen Rucksack oben quer drauflegte und damit mit seinen Anfang sechzig ins Hochtal hinab sprang und ich neben ihm laufen musste. Erdung nennt man das, Realität spüren und Glaubenssätze live hinterfragen – den Tränen nahe.

Auf dieser Wanderung verfestigte sich dann aber die Entscheidung meinen sicheren Job und Wohnung in der Toten-Hosen-, Fortuna- und Altbier-Stadt Düsseldorf zu kündigen und in einer kleinen Bude von Bafög lebend meine Abitur nachzumachen und danach ein Ingenieur-Studium zu absolvieren – ein Lebenstraum damals. Frisch in Dortmund am Borsigplatz unter vielen Türken lebend eingezogen, nahm ich mir eine Runner’s-World zur Hand, fand dort Einsteiger-Trainingspläne, nahm den „sportlicher Einsteiger“ und legte los und lief in nahe gelegenen Park. Immer mit Pausen und brav nach dem Kuchenstück-Prinzip war ich nach halbem Jahr schnell auf 12 km am Stück hochgekommen, später und im Beginn vom Studium im Dresden erhöhte ich es auf 18 km und blieb dabei erst mal sehr lang, Wettkämpfe gab es noch nicht für mich. Der „Große Garten“ war von da an aber mein Revier in Dresden und viele Kilometer habe ich dort gelassen.

Mein Start in München war dann nur bedingt toll. In der ersten Wochen wurde ich beim Laufen gleich von einem nicht angeleinten, abgerichteten Rottweil angefallen, der zum Glück eine Maulschlaufe trug und sich so nicht im Oberschenkel komplett festbeißen konnte, sondern nur in meiner Hand. Polizei, Notaufnahme, Gerichtsverhandlung usw. … meine Meinung zu Hunden ist seitdem, nennen wir es, „begrenzt“. Im Winter dann habe ich mich bei einem geplanten 10km-Lauf im Englischen Garten im Nordteil derart legendär bei Minusgraden verlaufen und wusste nicht mal mehr wo welche Himmelrichtung war, dass ich erst nach fast 20 km am Rad war, komplett erschöpft, ausgekühlt und dann noch damit heim musste.

Schnell öffnete sich für mich auch die Welt des Triathlons durch meinen Schwager, der mit einer Cérvelo-Zeitmaschine in Roth und Frankfurt startete und sich im Marathon an der Drei-Stunden-Marke abarbeitete. Es folgten Jahre der Trainingslager auf Mallorca, Lanzarote, Djerba, Fuerteventura, neue Freunde und unendliche Stunden im Chlor getränkten Wasser vor der Arbeit, Rennrad vor der Arbeit, Laufen nach der Arbeit und was war eigentlich Arbeit? Egal, die nächste Mitteldistanz stand an. Zur Langdistanz hatte ich zum einen nicht den Mut, zum anderen war ich wieder naiv gewesen. Ich dachte mir, wenn so viele Menschen diesen Sport gemeinsam machen und Ausdauertraining formt ja den Charakter, dann wurde ich dort viele tolle Menschen treffen. … getroffen und erlebt habe ich Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Eingebildetheit, sich zur Show stellen und Menschen, die teilweise in einem Art Wahn lebten und alles ausblendeten, was es um sie herum noch gab. Es gab nur noch Sport, Wattwerte, Kilometer, Trainingsprinzipien, Kriege über Ernährung, Philosophien über bla, bla, bla.

Ich bin zurück zum Laufen und habe den Marathon entdeckt. Zum ersten Mal hat mir wirklich etwas Spaß gemacht, vor allem im Wettkampf nach km 30 sich noch brauchbar fühlen und das Ding gut nach Hause laufen können oder beim Halbmarathon nach km 17 noch ziehen können. Dafür habe ich trainiert. Mein Meisterstück folgte dann in Boston mit einer respektablen 2:61:05 Stunden und einer tiefen Gewissheit im Ziel, Du hast alles, wirklich alles aus Dir raus geholt und mit guter Renneinteilung kam der Mann mit dem Hammer erst auf der Ziellinie. Rechnet man den sehr anspruchsvollen Kurs von Boston dazu, war es zumindest auch theoretisch unter der magischen Grenze von drei Stunden.

Es folgt die komplette Leere. Ich hatte alles erreicht. Nochmal im Herbst auf einer bessere Zeit in Berlin oder Frankfurt hin zu trainieren, weigerte sich meine Motivation und muskuläre Verletzungen mit Einblutungen und ähnlichem folgten. Ich hatte den Fehler begannen, dass ich direkt nach Boston – ich arbeitet da bereits als Lauftrainer für Firmen – quasi aus dem Flieger gestiegen, 7 Stunden im Bett gewesen, bereits wieder ein Training gab – zwei Tage nach dem Rennen! Diese grenzenlose Dummheit und nicht Nein sagen können wurde mir zum Verhängnis. Muskulär ging diesen Sommer nichts mehr und mein Kopf machte die Grätsche.

Die weiteren Jahre steigerte ich mich in meine Trainertätigkeit rein, machte mehrere Ausbildungen beim Verband und privaten Instituten, schuf eine Mittelstrecken-Trainingsgruppe und war fünf Abende die Woche und am Wochenende als Trainer unterwegs oder saß am Schreibtisch, Stunden – Arbeit war wieder egal, teilweise aber auch auch richtig fordernd – aber ich schaffe das ja. Wie war das nochmal mit den Triathleten, die alles um sich herum vergaßen. Guten Morgen. Dazu kam dann noch Vereinsarbeit, Ausrichtung von großen Wettkämpfen mit Ressortleitungen und Ämterübernahme im Verein und so weiter. Dann Streit, Meinungsverschiedenheiten, andere Ehrenamtliche im Verein waren komplett überarbeitet und Missverständnisse taten ihr übriges. Auch ich machte die Grätsche, musste professionelle Hilfe in Anspruch nehmen und zog mich weitestgehend aus den Dingen wieder zurück. Einzig meine Mittelstrecken-Trainingsgruppe blieb mir, bis heute. Ich lief keinen Meter mehr selber. In den weiteren Jahren öffnete sich – auch im Verband beobachtet – mein Blick dafür, wie viel Menschen sich im Ehrenamt komplett und ohne Grenzen zu kennen verausgaben, bis aufs Messer Kriege führen und sich selber vergessen. Die Anzahl der Herzinfarkte und Schlaganfälle von Herren dort, war nicht gering – Menschen die ich teilweise persönlich kannte. Ehrenamt sollte nicht Sich-Selbst-Aufgeben bedeuten!

Auf die Straße habe ich bis dahin auch nichts mehr gebracht. In diesen Ehrenamtsjahren bin ich zum Sitzer geworden, Gruppen begleiten nur noch auf dem Rad oder am Platz stehend. Eigene Sport war nur noch wenig. Nervenproblematiken in den Füßen machten mir das Leben schwer, lange keine Aussage von Ärzten und Orientierungslosigkeit steigerte sich in grenzenlosen Frust hinein. Ein umgänglicher Mensch war ich da schon lange nicht mehr – einfach macht es da die Situation nicht, von komplett leistungsfähigen Sportler und Leistungssportlern umgeben zu sein, auch zu Hause. Das Rennrad gab mir noch etwas Halt und Alltags-Radkilometer, phasenweise das Schwimmen, einfach jede Woche einmal mind. 20 min geschwommen sein, Punkt. Ein langer Prozess folgte an dessen Ende ich eine Barfuß-Lauf-Trainer in Düsseldorf kennenlernte, damit vorher schon rumprobiert hatte und es ein Weg zu sein schien. Der begann mit 5x 300 m Laufen in FiveFingers – also nichts mit 48 km Trail an jedem Wochenende oder Ironman! Nein, es war mühsam und letztendlich hat es jetzt drei Jahre gedauert, dass ich wieder mal für den Stunde laufen oder mal 15 km laufen vor die Tür gehen kann – in FiveFingers oder Laufsandalen oder sogar barfuß.

Manche Wege führen 2100 km von München nach Istanbul – und man muss vor der türkischen Grenze wegen eines Despoten abbrechen, andere führen über die Jahren mühsam und einen Schritt nach dem anderen doch zu einem kleinen Ziel. Mit dem man zufrieden ist.

Mein Lebenseinstellung ist nach diesem Ausflug: Nicht jeder Mensch muss einen Ironman machen, einen Ultra laufen, Ultra-Trails laufen, wie eine Gazelle auf Ultras durch die Berge springen, tagelang durch Wüsten oder die Arktis laufen, über Jahre hinweg jeden Tag laufen oder immer und nur seine Grenzen spüren – ständig spüren! Ich habe meine Grenzen in mehreren Dingen gespürt – ohne vorgenanntes zu machen oder vollständig gemacht zu haben – und es reicht mir. Ich laufe trotzdem noch gerne. Ich muss laufen. Ich will fit sein die nächsten Jahrzehnte und auch im Alter noch laufen. Fit sein. Raus kommen. Zufrieden sein. Denken beim Laufen. Den Kopf Kopf sein lassen bei Laufen. Ruhe finden. Laufen.

Laufen