Unklarer Blick
Gedanken

On empty years

Was sind für mich leere Jahre?

… diese Frage stellte ich mir vor ein paar Tagen, als ich einen Beitrag des sehr schönen und ruhigen ‚in-finity‘ Blogs zum Thema Endlichkeit gelesen habe. In ihrem letzten Newsletter stellt die Autorin zudem den Vergleich von unserem Leben zu den Phasen der Natur her. Sie schreibt: „So wie in der Natur hat auch jede Phase im Leben ihre eigene Bedeutung. Ohne das Aufblühen im Frühling gäbe es keinen Sommer der Entfaltung. Ohne die Reife des Herbstes und das Loslassen des Nicht-mehr-Dienlichen gäbe es keinen Winter der Regeneration. Und ohne die Stille des Winters, in dem die Samen des Neuen unsichtbar in der Erde schlummern, gäbe es kein Wachstums im Frühling.“ [1]

Leere Jahre sind für mich Jahre, in denen … genau diese sich wechselnden Phasen nicht mehr da sind. Alles ist monoton, gleich und irgendwie betäubt – u.U. durch Substanzen, wie Alkohol oder Drogen. Aber auch viel häufiger betäubt – und weniger also solches bewusst so gesehen – durch ständige Reize von Serien, von immer Vorhandensein von Musik, von immer etwas Essen, von viel Sport und von dauernder Aktivität. Es wird durch Reize alles gleich gemacht und ein Empfinden von Unterschieden in den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen wird betäubt. Wir spüren uns nicht mehr. Wir hören uns nicht mehr zu. Wir fühlen alles gleich – das ganze Jahr über und ist dieses zu Ende, fragen wir uns: War da was? Wo ist dieses Jahr hin?

Leere Jahre sind für mich Jahre, in denen … monoton gelebt wird einfach von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat. Eine gewisse Dumpfheit zieht sich mit Routine und Verpflichtung über das eigene Leben, aber auch das von ganzen Familien. Eine Definition des Selbst findet über nach außen gezeigtem Status statt und bricht das weg, ist man niemand – man weiß nichtmal, wer man ist oder jemals war.

Leere Jahre sind für mich Jahre, in denen … ich aus Bequemlichkeit in einer Opferhaltung geblieben bin und das Leben einfach nur ertragen habe – von anderen bestimmt. Andere sind Schuld, andere sollen mich retten, andere sollen Verantwortung für mich übernehmen.

Leere Jahre sind für mich Jahre, in denen … ich in kurzen Phasen der Stille, der Ruhe und des Reflektierens spüre, dass sich etwas ändern muss. Körperliche und seelische Schmerzen werden groß und laut und trotzdem unterdrücke ich Bestrebungen zur Veränderung mit Beharrung an alten Mustern und Schemata – auch und häufig gerade durch Einwirkung von Umgebungen in Familie, Freundeskreis und Arbeit. Sie zeigen mir, es ist alles in Ordnung – das ist ’normal‘ so. Nein, es sind Funktionsmuster zu deren Vorteil. Es sind an uns herangetragene Aufträge und Erwartungen, die wir uns nicht trauen in Frage zu stellen und die weiter erfüllt werden – auf unsere Kosten. Es entsteht fast einen Rennen Tag ein Tag aus und immer unterwegs sein ohne Pause einfach mal zum Verschnaufen, ohne Ruhe und ohne Stille.

„Stille ist Zurückgezogenheit – Ich liebe diese Art von Stille, die mir Zurückgezogenheit gewährt. Zeit, um Musik zu hören oder über verschiedene Dinge nachzudenken, durchaus sehr konzentriert, auch wenn mich dazu keine akustische Stille umgeben muss. Einfach zu wissen, dass gerade niemand etwas von mir möchte, worauf ich meine Aufmerksamkeit verwenden muss.“
[Prof. Ulrich Walter, Astronaut und Physiker, aus Manu Theobald – Stille ist]

Leere Jahre sind für mich Jahre, in denen … ich nicht gesehen wurde. In einer Beziehung oder auch bereits als Kind nur ‚mitlief‘ oder/und die Eltern mit eigenen Dingen so beschäftigt waren, dass nicht zugehört wurde. Man zieht sich selbst in die Einsamkeit zurück und versucht dort ein Leben zu finden – eine Art von Leben, ein wenig Leben (a little life) … der Verlust ist uneindeutig und fällt eben nicht deutlich auf. Wir schweigen und behalten Gefühle und Bedürfnisse für uns und werden unsichtbar.

„Wenn ein Mensch nicht als der Mensch angenommen worden ist und wird, der er sein will,
sondern nur als der, der er sein soll, dann hilft nur noch Schweigen.“
[Tina Soliman, Der Sturm vor der Stille, S. 119, eine Leserin]

… auch ein Verlust eines geliebten Menschen, eines geliebten Tieres, eine einschneidende Diagnose kann ein Jahr zu einem verlorenen machen. Es sind eben die Phasen des Lebens. Ein Einschnitt lässt uns zurückziehen, wir sind auf uns gestellt, hören uns aber vielleicht dennoch zu und vielleicht kann für etwas anderes etwas neues entstehen. Eine Natur hat nicht nur Sommer und nicht nur Winter. Sehen wir es und lassen Dinge zu und vertrauen auf Veränderung, wird ein Jahr vielleicht leer sein, ein weiteres aber dann nicht mehr und ein Inhalt kommt zurück.

… auch schönere Erinnerung kommen wieder, am Ende von einem weiteren Jahr kommen sie wieder hervor und vielleicht ist es eine neue Phase im Lebens.


[1] Newsletter vom 03.10.2024 „Festklammern oder Loslassen?“ von Kathrin Fleischmann auf https://www.infinitywetrust.com

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